Lebendig tote Pferde – wenn im Auge kein Leben mehr ist
- Heike Gottschling-Wulf
- 1. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Es gibt Pferde, die laufen brav ihre Runden, tragen ihre Reiter zuverlässig durchs Viereck und reagieren auf jede Hilfe – artig, gehorsam, unauffällig.
Klingt doch eigentlich perfekt, oder?
Und doch sehe ich bei manchen dieser Pferde eines nicht mehr: das Leuchten in den Augen. Diese Pferde wirken wie „lebendig tot“.
Sie funktionieren, sie tun, was man von ihnen erwartet – aber innerlich sind sie längst abgeschaltet.
Wenn Pferde nur noch „funktionieren“
Das Tragische ist: So weit kommt es selten aus böser Absicht. Kein Reiter steht morgens auf mit dem Gedanken: „Heute lösche ich meinem Pferd die Freude aus den Augen.“
Und trotzdem passiert es.
Zu viel Routine, zu wenig echtes Miteinander.
Technik vor Gefühl.
„Mach dies, mach das“ – aber ohne zuzuhören.
Die Pferde passen sich an. Sie werden artig, brav – und stumpf.
Viele geben auf, weil sie spüren: Da ist niemand, der ihnen wirklich zuhört.
Leistung als Maßstab – für Pferd und Reiter
Besonders im Leistungssport tritt noch ein weiterer Faktor hinzu: Erwartungen.
Erwartungen an das Pferd, auf dem Turnier zu glänzen.
Erwartungen an den Reiter, Leistung zu bringen – von Trainern, Eltern, manchmal vom gesamten Umfeld.
Dieser Druck macht etwas mit uns – und damit auch mit unseren Pferden. Denn wenn wir selbst unter Leistungsstress stehen, spüren sie es sofort. Und wenn wir zu sehr auf das „Funktionieren“ fixiert sind, bleibt die echte Begegnung schnell auf der Strecke.
Das Ergebnis ist am Ende dasselbe – egal ob im Breitensport oder Turniersport:
Pferde, die nicht mehr innerlich mitmachen, sondern nur noch äußerlich abliefern oder sich ganz verweigern.
Ohne Selbstgefühl kein Pferdegefühl
Das eigentliche Problem liegt oft noch tiefer: Viele Reiter haben den Kontakt zu sich selbst verloren. Wer nicht spürt, wie er selbst atmet, wie er im Becken sitzt, wie er Spannung im Körper hält, der wird auch sein Pferd nicht wirklich spüren können.
Pferde leben im Moment. Sie nehmen feinste Nuancen wahr. Wenn wir selbst innerlich „abgeschaltet“ sind – sei es durch Druck, Stress oder Selbstzweifel – merken sie das sofort und passen sich an. Sie spiegeln uns. Und so wie wir innerlich funktionieren, funktionieren irgendwann auch sie.
Innere Arbeit – der Schlüssel
Natürlich darf man Technik üben, Hilfen verbessern, reiten lernen. Aber der entscheidende Teil ist ein anderer: die innere Arbeit am eigenen Selbstgefühl, Selbstwert und Selbstvertrauen.
Ein Pferd braucht einen Menschen, der sich selbst kennt.
Der weiß, wie er mit Anspannung umgeht.
Der seine Zweifel wahrnimmt, statt sie zu verstecken.
Der klar in seiner Haltung ist – innerlich wie äußerlich.
Und: Es reicht nicht, nur im Kopf zu arbeiten. Auch die äußeren und körperlichen Ebenen gehören dazu. Unterricht, Ausbildung und ein Blick von außen sind genauso wichtig. Und wenn der Reiter körperlich verspannt, blockiert oder gesundheitlich eingeschränkt ist, nützt der beste Unterricht wenig.
Alles hängt zusammen. Nur wenn wir bereit sind, dieses Zusammenspiel zu sehen und auf allen Ebenen hinzuschauen, kann sich wirklich etwas verändern – für uns und für unsere Pferde.
Ein Weckruf statt Vorwurf
Mir ist wichtig: Das ist kein Vorwurf an Reiter – egal ob Breitensportler, Turnierreiter oder Spitzensportler. Die allermeisten wollen es gut machen. Sie lieben ihre Pferde. Sie trainieren, sie lernen, sie geben ihr bestes

.
Aber: Es reicht nicht, wenn das Pferd nur nach außen Leistung bringt und der Reiter nach innen unter Druck steht. Auf Dauer verlieren beide dabei ihre Freude – und genau das können wir in den Augen der Pferde sehen.
Fazit
„Lebendig tote Pferde“ sind kein Schicksal, das wir hinnehmen müssen. Sie sind ein Spiegel. Ein Hinweis darauf, dass wir als Menschen wieder mehr ins Fühlen kommen dürfen.
Denn Reiten ist mehr als Technik, mehr als Turniere, mehr als Leistung. Es ist Beziehung. Und Beziehung lebt davon, dass beide Seiten anwesend sind – nicht nur körperlich, sondern auch innerlich.
Also frag dich selbst: Bin ich wirklich da – oder funktioniere ich nur?



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